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Im Dickicht des § 17 KSchG – Zuleitungspflicht im Massenentlassungsverfahren

August 2022 · Lesedauer: Min

Die Orientierung am Wortlaut des Gesetzes reicht nicht mehr aus, um Fehler im Massenentlassungsverfahren zu vermeiden

Wieder steht das Anzeigeverfahren bei Massenentlassungen im Fokus der Rechtsprechung. Erst wurden die Begriffe des Betriebs und der Entlassungen ausgelegt. Nun hat sich der Europäische Gerichtshof mit dem Sinn und Zweck der Übermittlungspflicht aus Art. 2 Abs. 3 Unterabs. 2 der Massenentlassungsrichtlinie auseinanderzusetzen.

Bei Personalabbaumaßnahmen, die mehr als fünf Arbeitnehmer betreffen, sollte umgehend an § 17 Kündigungsschutzgesetz (nachfolgend „KSchG“) gedacht werden.

Arbeitgeber sind jedoch gut beraten, sich nicht allein am Wortlaut der Regelung des § 17 KSchG zu orientieren. Während sich der Gesetzestext seit 1978 nur an wenigen Stellen geändert hat, haben sich in der Zwischenzeit jedoch die Anforderungen an die Massenentlassungsanzeige und das Konsultationsverfahren mit dem Betriebsrat maßgeblich durch die Rechtsprechung des EuGH sowie das BAG gewandelt und sind zu einem Dickicht an ungeschriebenen Voraussetzungen geworden.

Es ist daher essentiell, die neuesten Entwicklungen in der Rechtsprechung und neue offene Fragen im Massenentlassungsverfahren im Blick zu haben. Aktuell steht überraschend die Regelung des § 17 Abs. 3 S. 1 KSchG und die dort geregelte Zuleitungspflicht einer Abschrift der Mitteilung an den Betriebsrat an die Agentur für Arbeit im Fokus. Nachfolgend ein Umriss:

Zuleitungspflicht nach § 17 Abs. 3 S. 1 KSchG als bloße Verwaltungsvorschrift oder Verbotsgesetz? – Vorabentscheidungsverfahren am EuGH

Die Zuleitungspflicht ist in § 17 Abs. 3 S. 1 KSchG geregelt; dort heißt es:

Der Arbeitgeber hat gleichzeitig der Agentur für Arbeit eine Abschrift der Mitteilung an den Betriebsrat zuzuleiten […]

Die Regelung hat ihren Ursprung in der europarechtlichen Massenentlassungs-Richtlinie (Art. 2 Abs. 3 Unterabs. 2). Hiernach müssen Arbeitgeber der zuständigen Behörde eine Abschrift der Unterrichtung des Betriebsrates zur geplanten Massenentlassung zuleiten.

Umsetzung der europäischen Richtlinie
In Umsetzung der europarechtlichen Regelung verfolgte der deutsche Gesetzgeber das explizite Ziel, die frühzeitige Unterrichtung der Arbeitsverwaltung von einer größeren Personalabbaumaßnahme sicherzustellen (vgl. BT.-Drs. 8/1041, S. 5). Obwohl in der Massenentlassungs-Richtlinie keine zeitlichen Vorgaben für die Zuleitung der Abschrift an die Arbeitsverwaltung gemacht wurden, wurde in Deutschland das zeitliche Kriterium „gleichzeitig“ aufgenommen. Seit dem Inkrafttreten des § 17 Abs. 3 S. 1 KSchG waren Arbeitgeber:innen daher gehalten, eine Abschrift der Mitteilung, mit der das Konsultationsverfahren mit dem Betriebsrat gem. § 17 Abs. 2 KSchG eingeleitet wird, „gleichzeitig“ an die Agentur für Arbeit zuzuleiten.

Der Entlassungsbegriff des EuGH 2005
In der Zwischenzeit ist jedoch viel passiert. Insbesondere hat sich das Verständnis des Entlassungsbegriffs 2005 durch die Junk-Entscheidung des EuGH (vgl. EuGH, Urt. v. 27.01.2005 – C-188/03) wesentlich gewandelt. Seither ist das unionsrechtliche Verständnis des Entlassungsbegriffs maßgeblich. Als „Entlassung“ im Sinne des § 17 Abs. 1 KSchG ist bereits der Zugang der Kündigungserklärung zu verstehen (und nicht erst der Austritt aus dem Arbeitsverhältnis), sodass sowohl das Konsultations- als auch das Anzeigeverfahren zeitlich bereits vor dem Kündigungszugang durchgeführt werden müssen. Im Ergebnis hat sich daher die damals mit der Zuleitungspflicht vom Gesetzgeber bezweckte frühe Information der Agentur für Arbeit erübrigt: Die Agentur für Arbeit weiß nunmehr durch die vor Ausspruch der Kündigung zu übermittelnde Massenentlassungsanzeige schon frühzeitig, dass in naher Zukunft möglicherweise Arbeitnehmer arbeitslos werden und ggf. vermittelt werden müssen.

Aktuelle Rechtsauffassung des BAG und Vorlage an den EuGH
Lange Zeit passierte auch nichts. Es wurde recht einhellig die Auffassung vertreten, dass die Zuleitungspflicht nach § 17 Abs. 3 S. 1 KSchG ein „zahnloser Tiger“ sei und ein Verstoß gegen diese Pflicht für sich genommen nicht zur Rechtsunwirksamkeit einer Kündigung führt.

Erst jetzt musste sich das BAG mit der Fragestellung befassen, welche Folge eine gänzlich unterbliebene Zuleitung einer Abschrift an die Agentur für Arbeit gem. § 17 Abs. 3 S. 1 KSchG hat (vgl. Revisionsverfahren am BAG, Az. 6 AZR 155/21) hat. Die Beantwortung dieser Frage durch das BAG hängt davon, ob der EuGH der Übermittlungspflicht im Sinne der Massenentlassungs-Richtlinie arbeitnehmerschützenden Charakter beimisst. Entsprechend legte das BAG dem EuGH daher mit Beschluss vom 27. Januar 2022 diese Frage zur Beantwortung vor.

Dabei lässt der 6. Senat des BAG erkennen, dass er der Zuleitungspflicht keinen arbeitnehmerschützenden Charakter zusprechen würde. An diese Rechtsauffassung des Bundesarbeitsgerichts ist der EuGH jedoch selbstverständlich nicht gebunden.

Es bleibt bis zu einer Entscheidung des EuGH unklar, ob eine gänzlich unterbliebene Übermittlung des Schreibens, mit welchem das Konsultationsverfahren eingeleitet wird, an die Agentur für Arbeit und damit ein Verstoß gegen § 17 Abs. 3 S. 1 KSchG zur Unwirksamkeit aller Entlassungen führt.

Das Auslegungsergebnis des EuGH zum Zweck der Verpflichtung, der zuständigen Behörde eine Abschrift von Teilen der Mitteilung an den Betriebsrat Konsultationsverfahren zu übermitteln, ist jedoch nicht zwingend ausschlaggebend für die Fallkonstellation, in denen Arbeitgeber der Agentur für Arbeit die Unterrichtung des Betriebsrats zwar zugeleitet haben, dies aber nicht „gleichzeitig“ erfolgte.

Hinweise für die Praxis

Fehler bei Massenentlassungsverfahren können die Unwirksamkeit aller von der Personalabbaumaßnahme umfassten Kündigungen nach sich ziehen und sind daher nicht zu unterschätzen.

Da die Orientierung am Wortlaut des Gesetzes bei Weitem nicht mehr ausreicht, sind die Vorgaben des EuGH und des Bundesarbeitsgerichts zu beachten und aktuelle Entwicklungen stets zu verfolgen. Arbeitgeber können auch nicht ohne Weiteres darauf vertrauen, dass die während eines durchgeführten Massenentlassungsverfahrens bestehende und langjährige Rechtspraxis fortbesteht. Ein solcher Vertrauensschutz im Falle einer durch die Auslegung der Massenentlassungsrichtlinie geänderten Rechtsanwendung wird vom EuGH nur in den seltensten Fällen angenommen. Arbeitgeber sind daher gut beraten, die Rechtsprechung aufmerksam zu beobachten und bei geplanten Massenentlassungen schnell Anpassungen im Verfahrensablauf vorzunehmen.

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