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Gamechanger: Bundesarbeitsgericht sieht umfassende Pflicht zur Arbeitszeiterfassung in Deutschland

September 2022 · Lesedauer: Min

Der Beschluss des BAG wird ein erhebliches Umdenken der in Deutschland tätigen Unternehmen erfordern

„Careful what you wish for“: Eine Arbeitgeberin geht mit der Frage zu einem Initiativrecht ihres Betriebsrates zum Bundesarbeitsgericht und bekommt eine umfassende Zeiterfassung für Deutschland. 

Das Bundesarbeitsgericht sieht eine umfassende Pflicht zur Arbeitszeiterfassung in Deutschland. Der heutige Beschluss wird schon als „Paukenschlag“ bezeichnet und wird weitreichende Änderungen erfordern. Es wird zu prüfen sein, welche Spielräume nun noch bestehen, wie Arbeitsschutzbehörden reagieren und ob die Bundesregierung doch noch eine Rettung über eine Gesetzesänderung einbringt. Am 4. Mai 2022 (dazu unser Blog-Beitrag) hatten die Erfurter Richterinnen und Richter diese Frage in einer Entscheidung im Zusammenhang mit der Beweislast bei Rechtsstreitigkeiten im Bereich der Überstundenvergütung bewusst offengelassen.

Wie geht es weiter mit einer möglichen Pflicht zur Arbeitszeiterfassung? Diese Fragestellung ging heute vor dem Bundesarbeitsgericht in die zweite Runde und endet mit einem für Arbeitgeber wohl dramatischen Beschluss.  

Der Beschluss des Bundesarbeitsgerichts zur Bedeutung der Arbeitszeiterfassung bei der Beweislast im Rahmen der Überstundenvergütung (BAG vom 4. Mai 2022 – Az. 5 AZR 359/21) hatte nicht die erhoffte Klarstellung gebracht, wie in Deutschland die Arbeitszeiterfassung zukünftig gestaltet werden kann. Am 13. September 2022 (Az. 1 ABR 22/21) hat sich nunmehr das Bundesarbeitsgericht mit der Frage auseinandergesetzt, ob einem Betriebsrat ein Initiativrecht auf Einführung einer elektronischen Zeiterfassung zusteht. Diese Frage hat nicht nur Bedeutung für die Reichweite der betrieblichen Mitbestimmung, sondern auch für das Bestehen einer Pflicht zu umfassenden Arbeitszeiterfassung durch Arbeitgeber und die Möglichkeit der Einführung von Vertrauensarbeitszeit.  

Das Bundesarbeitsgericht ist nun so weit gegangen, ein Initiativrecht zu verneinen – jedoch unter Bestätigung einer umfassenden gesetzlichen Pflicht zur Arbeitszeiterfassung. Der Beschluss dürfte ein „Gamechanger“ für viele deutsche Arbeitgeber werden, die bisher auf Vertrauensarbeitszeit gesetzt haben und insoweit bewusst auf Kontrolle ihrer Arbeitnehmer verzichtet haben.  

Das bisherige Verfahren 
Im streitgegenständlichen Verfahren verhandelten Arbeitgeberseite und Betriebsrat ab 2017 über den Abschluss einer Betriebsvereinbarung zur Arbeitszeiterfassung. Die Verhandlungen scheiterten und der Betriebsrat beantragte die Einsetzung einer Einigungsstelle. Da in diesem Zusammenhang das Bestehen eines Initiativrechts des Betriebsrates bei der Einführung der Arbeitszeiterfassung in Frage gestellt wurde, begehrte der Betriebsrat anschließend entsprechende Feststellung. 

Der Betriebsrat begründete seinen Antrag mit dem Interesse der Arbeitnehmer an der Einführung einer elektronischen Zeiterfassung – dies bestehe insbesondere im Hinblick auf die genaue Erfassung von Arbeitszeit und Überstunden. Die Arbeitgeberseite sah ein Initiativrecht des Betriebsrates nicht. 

Nachdem das Arbeitsgericht Minden den Antrag zunächst abgewiesen hatte, gab das Landesarbeitsgericht Hamm ihm auf die Beschwerde des Betriebsrats hin statt. 

Stand der Rechtsprechung und Literatur 
Die Rechtsfrage war zum Initiativrecht in Rechtsprechung und Literatur zuletzt heftig umstritten. Gegner des Initiativrechtes beriefen sich immer wieder auf eine Entscheidung des Bundesarbeitsgerichts vom 28. November 1989 (Az. 1 ABR 97/88). Darin begründeten die Richter ihre Entscheidung mit der Abwehrfunktion des Mitbestimmungsrechts. Dieser Zweckbestimmung des Mitbestimmungsrechts widerspreche es jedoch, wenn der Betriebsrat die Einführung einer technischen Kontrolleinrichtung verlangen könnte.  

Die jüngere Rechtsprechung war dem Betriebsrat im Zusammenhang mit Arbeitszeiterfassung jedoch teilweise entgegengekommen: So hat das Bundesarbeitsgericht am 6. Mai 2003 (Az. 1 ABR 13/02) entschieden, dass der Betriebsrat zur Überprüfung der Einhaltung der regelmäßigen wöchentlichen Arbeitszeit über eine tatsächliche Über- oder Unterschreitung dieses Stundenvolumens benötige. Arbeitgeber:innen könnten dem Auskunftsverlangen auch nicht entgegenhalten, dass sie aufgrund der im Betrieb geltenden Vertrauensarbeitszeit die tatsächlichen Arbeitszeiten der Arbeitnehmer bewusst nicht aufzeichnen.  

Zeitenwende im deutschen Arbeitszeitrecht: Die Entscheidung des BAG 
Mit der Rechtsbeschwerde begehrte die Arbeitgeberseite die Wiederherstellung der erstinstanzlichen Entscheidung. Das Bundesarbeitsgericht hat auf die Revision des Klägers das Bestehen eines Initiativrechts des Betriebsrates nun zwar abgelehnt. Die Begründung ist aber eine ganz andere als im Beschluss von 1989: Der Betriebsrat kann nur dort mitbestimmen, wo der Handlungsspielraum des Arbeitgebers nicht bereits abschließend durch das Gesetz vorgegeben ist. Die Richter des Bundesarbeitsgerichts sehen aber eine solche gesetzliche Vorgabe in § 3 Abs. 2 Nr. 1 ArbSchG: dementsprechend bestünde kein Entscheidungsspielraum für Arbeitgeber und somit auch kein aus der Mitbestimmung folgendes Initiativrecht. 

Viel wichtiger ist aber, dass das Bundesarbeitsgericht die deutsche Gesetzeslage im Lichte der Rechtsprechung des EuGH zur Arbeitszeiterfassung (Federación de Servicios de Comisiones Obreras [CCOO] / Deutsche Bank SAE, 14. Mai 2019 – Az. C-55/18) dahingehend auslegt, dass Arbeitgeber dazu verpflichtet sind, ein System einzuführen, mit dem die von den Arbeitnehmern geleistete Arbeitszeit sämtlich erfasst werden kann. Und diese Pflicht gelte insoweit auch jenseits der im Arbeitszeitgesetz ausdrücklich verlangten Erfassung von über 8 Stunden am Tag hinausgehender Arbeitszeit sowie Sonn- und Feiertagsarbeit.  

Die Bundesregierung versprach bisher noch: Vertrauensarbeitszeit soll bleiben 
Gesetzliche Aufzeichnungspflichten bestanden bislang nur für Arbeitszeit, die über täglich acht Stunden hinaus geht und beispielsweise bei mindestlohnrelevanten Tätigkeiten und im Bereich der Arbeitnehmerüberlassung. Eine Anpassung wurde infolge des EuGH-Urteils nicht vorgenommen. In ihrem Koalitionsvertrag hat die Ampel-Regierung jedoch deutlich gemacht, dass das Urteil in Deutschland auch gesetzlich umgesetzt werden soll. Gleichzeitig sollte dabei aber die Möglichkeit zur Vereinbarung von Vertrauensarbeitszeit erhalten bleiben. Zu deren wesentlichen Bestandteilen gehört regelmäßig aber auch, dass gerade keine Zeiterfassung stattfindet. 

Fazit: 

„Careful what you wish for“: Die Arbeitgeberin in dem BAG-Verfahren hat vielleicht nicht geahnt, dass sie eine Frage zum Initiativrecht ihres Betriebsrates stellt und dann plötzlich eine umfassende Zeiterfassung bekommt.  

Der Beschluss wird nun ein erhebliches Umdenken der in Deutschland tätigen Unternehmen erfordern. Zurück zur „Stechuhr“ wird die Devise sein. Insoweit hat die Arbeitgeberin den Fall zwar gewonnen, aber im Ergebnis müssen sich jetzt wohl alle Arbeitgeber, die heute auf Vertrauensarbeitszeit setzen, auf massive Änderungen einstellen. Und Arbeitnehmer, die bisher die Freiheit und das Vertrauen ihrer Arbeitgeber genossen, ihre Arbeitszeit nicht vollständig belegen zu müssen, werden nun diese Praxis auch ändern müssen und sich mehr Kontrolle ausgesetzt sehen.   

Es wird zu prüfen sein, welchen Spielraum der Beschluss noch erlaubt, wie engmaschig die Arbeitsschutzbehörden nun die Existenz einer Arbeitszeiterfassung prüfen und ob die Bundesregierung ihr Versprechen im Koalitionsvertrag, die Vertrauensarbeitszeit zu retten, noch einlösen kann.  

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